Zu diesem Buch
Die politischen Umwälzungen in der Ukraine seit November 2013 führen erneut vor Augen, welches Gefahren- und Mobilisierungspotenzial von der
Instrumentalisierung geopolitischer Raumbilder wie "Osten" und "Westen" ausgehen kann. Es erscheint daher sinnvoll, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, um den
Anfängen des Europa-Diskurses in dieser Region auf den Grund zu gehen.
Burkhard Wöller untersucht in seiner transfer- und verflechtungsgeschichtlich angelegten Studie, welche Bedeutung die mentale Selbstverortung in "Europa" für
die polnische und ukrainische Nationsbildung im habsburgischen Kronland Galizien hatte. Anhand der Analyse der galizischen Geschichtsschreibung des langen 19. Jahrhunderts
zeichnet der Autor nach, auf welche Weise "Europa" konstruiert wurde, wie es in den verschiedenen Geschichtsdarstellungen für nationale Ziele instrumentalisiert werden
konnte und welche diskursiven Strategien damalige Historiker entwickelten, um in ihren Geschichtsdarstellungen etwa die "Europäizität" oder auch den "östlichen
Charakter" der eigenen Nation zu belegen: Die Konstruktion und Popularisierung von Fortschrittserzählungen, Zivilisierungsmissionen und Bollwerkmythen dienten den
Historikern dabei als Grundlage für die Etablierung nationaler und europäischer Narrative.
Die genauere Betrachtung Galiziens erweist sich in mehrfacher Hinsicht als fruchtbar. Einerseits war das vielfach "am Rande Europa" verortete Kronland oft selbst Gegenstand
des Europa-Diskurses. Andererseits muss Galizien eine Vorreiterrolle für die polnische und ukrainische Nationsbildung beigemessen werden. Diese spezifische
Konstellation ermöglicht es daher, sowohl die Wechselwirkungen zwischen "Nationsbildung" und "Europabewusstsein" zu untersuchen, als auch die Funktionalisierung von
"Europa" als historischem Argument im konkreten Fall des polnisch-ukrainischen Nationalitätenkonflikts zu analysieren.
In seiner Diskursanalyse stützt sich Burkhard Wöller auf eine systematische Auswertung der polnischen und ukrainischen Historiografie zwischen 1830 und
1918. Das breite Quellenkorpus beinhaltet neben wissenschaftlichen Forschungsarbeiten des akademischen Diskurses auch populärwissenschaftliche und publizistische
Geschichtsbroschüren und Artikel sowie offiziell approbierte Lehrbuchtexte.
Burkhard Wöller legt mit seinen Ergebnissen eindringlich dar, dass "Europa" eine nicht zu unterschätzende nationsbildende Funktion zugeschrieben werden
muss. Dabei gelingt es ihm, inhaltliche Parallelen, rhetorische Strategien und narrative Techniken offenzulegen, die auch heute immer noch nicht an Aktualität
eingebüßt haben. Er sensibilisiert vor allem für den Konstruktcharakter, die Instrumentalisierung und das Machtpotenzial von Europa-Bildern und nationalen
Narrativen – denn ungefähr an der Stelle, wo schon im 19. Jahrhundert die "Kulturgrenze" zwischen "Westen" und "Osten" verortet wurde, verläuft heute die
Außengrenze der Europäischen Union und teilt "Europa" erneut in zwei Hälften.
Inhalt
Vorwort · 1 Einleitung · 1.1 Die historische Dimension des polnischen und ukrainischen Europa-Diskurses · 1.2 "Europa" als Desiderat der
Historiografieforschung · 1.3 Was ist "Europa"? – Theoretische Vorüberlegungen · 1.4 Quellenkorpus · 2 Auf dem Weg zu einer
modernen Geschichtswissenschaft in Galizien · 2.1 Erste wissenschaftliche Institutionen im Vormärz (1831–1848) · 2.2 Die Folgen des
Völkerfrühlings (1848–1867) · 2.3 Galizische Autonomie (1867–1890) · 2.4 Professionalisierung und Massenmobilisierung
(1890–1914) · 2.5 Geschichtsforschung und -propaganda im Ersten Weltkrieg (1914–1918) · 3 Fortschrittsnarrative: Die Nation im
"europäischen Zivilisationsprozess" · 3.1 Die "Rückständigkeit" Galiziens als historiografischer Imperativ · 3.2 "Am Rande Europas":
Naturbedingungen als "Entwicklungshemmnis" · 3.3 Monarchismus oder Republikanismus als politische "Fortschrittsfaktoren"? · 3.4 Das "hohe
Entwicklungsniveau" der Kiewer Rus’ · 3.5 Das Fürstentum Halyc-Volyn’ zwischen "Osten" und "Westen" · 3.6 Polens "Anomalie" oder
"Sonderweg" in "Europa"? · 3.7 Zusammenfassung · 4 Zivilisierungsmissionen: Die Ausdehnung "Europas" in den "Osten" · 4.1
"Zivilisierungsmission" als historiografische Legitimierungsstrategie · 4.2 Erste Konzeptualisierungen der Missionsidee in Galizien · 4.3 Rotreußen: Kasimir
III. als wohltätiger "Kolonisator"? · 4.4 Krewo: Die Zivilisierung der "Kresy" · 4.5 Lublin: "Jagiellonische Idee" und "Zivilisierungsmission" · 4.6
Brest: Mission zur (Re-)Katholisierung der Rus’4.7 Zusammenfassung · 5 Bollwerkmythen: Die Verteidigung "Europas" gegen die "Barbaren" ·
5.1 Der Bollwerk-Mythos in der polnischen und ruthenischen Historiografie · 5.2 Die Rus’ und Halyc-Volyn’ als Vorposten gegen die asiatischen
Steppenvölker · 5.3 Die "Mongolenflut": Abwehrschlachten an der Kalka und bei Liegnitz · 5.4 Historiografische Funktionalisierungen der Tatarengefahr
· 5.5 "Sein Grab ist Europa" – Wladyslaws "Martyrium" in Warna · 5.6 Die Kosaken – Unruheherd oder Wächter an der Grenze "Europas"?
· 5.7 Die Befreiung Wiens von den "Türken": Die Sobieski-Feiern in Galizien · 5.8 Grunwald: Das "umgekehrte Bollwerk" gegen den "Westen"? ·
5.9 Zusammenfassung · 6 "Europa" in der Weltkriegspropaganda · 6.1 Die Verschärfung des polnisch-ukrainischen Antagonismus · 6.2
"Unsere westliche Orientierung" · 6.3 Russlands "asiatischer" Charakter · 6.4 Bollwerke gegen die "Barbarei des Moskowitismus" · 6.5
Zusammenfassung · 7 Resümee: Der Europa-Diskurs in der galizischen Geschichtsschreibung · 8 Literaturverzeichnis · 8.1
Primärquellen · 8.2 Enzyklopädische Werke · 8.3 Forschungsliteratur · Transliterationstabelle · Personenindex