Zu diesem Buch
Zu einem neuen Schwerpunkt kulturwissenschaftlicher Forschung
ist die Untersuchung von Selbstzeugnissen geworden, Quellen schriftlicher und bildlicher Natur, in denen ein Ich über sein und vielleicht seiner Familie Leben, sein
Umfeld, sein Denken, Fühlen und Meinen willentlich oder beiläufig Auskunft gibt. Das Quellenmaterial ist vielgestaltig: Es reicht von autobiographischen
Aufzeichnungen und Notizen jeglicher Art und Länge über Briefe bis zu selbst verfassten oder veranlassten Inschriften und selbst gefertigten oder im Auftrag erstellten
Bildnissen der eigenen Person. Die wissenschaftliche Bearbeitung dieses sehr heterogenen, Fächergrenzen übergreifenden Quellenbereiches bedarf notwendig des
Dialoges der Disziplinen, in dem Forschungsperspektiven und Methoden transdisziplinär miteinander ins Gespräch gebracht und interdisziplinär an einzelnen
Selbstzeugnissen erprobt werden können.
Geschichts-, Kunst- und Literaturwissenschaftler/innen
hatten in einem hierauf orientierten Arbeitsgespräch in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel grundlegende Forschungsprobleme, Projektdarstellungen und
Einzelfallstudien zur Diskussion gestellt. Im Ergebnis wird die historische und die methodisch-interpretatorische Bandbreite des Begriffes Selbstzeugnisse deutlich: Quellen
von der Spätantike an können berücksichtigt sein, und unterschiedlichste Quellentypen können mittels diverser, gegebenenfalls aus Einzeldisziplinen
hervorgehender Fragestellungen analysiert werden.
Einen Abriss der gegenwärtigen Selbstzeugnisseforschung
legt der Band mithin vor: Wie sind, geographisch und zeitlich begrenzt, Selbstzeugnisse systematisch zu erfassen und aufzubereiten, um sie mentalitätsgeschichtlichen
Fragestellungen zugänglich zu machen? Wie sehen solche Fragestellungen aus, und bei welchen Gruppen von Selbstzeugnissen sind sie wie anwendbar? Zu welchen
Ergebnissen gelangt die Untersuchung eines Selbstzeugnissekorpus in einem sozial definierten Raum wie einer Stadt? Welche Formen der Selbstdarstellung begegnen uns in
humanistischen und reformatorischen Kontexten, und wie verläuft die Entwicklung der bildlichen Selbstdarstellung?
Die Beiträge des Bandes
gehen diese im weitesten Sinne historisch-anthropologischen Probleme exemplarisch an. Sie zeigen, auf welchen methodischen Wegen die Interpretation von Selbstzeugnissen
Erkenntnisse über historische Mentalitäten vermitteln kann – zugespitzt: über Individualität in ihren historischen Erscheinungsformen, wenn diese
darüber hinaus in Gestalt einer Selbstdarstellung dargeboten sind. Die jüngst wiederbelebte Diskussion über Individualität in Mittelalter und früher
Neuzeit wird aus der Erfassung und Untersuchung von Selbstzeugnissen neue Impulse beziehen.
Die Beiträge
Sabine Schmolinsky
Selbstzeugnisse im Mittelalter
Urs Martin Zahnd
Stadtchroniken und autobiographische Mitteilungen. Studien zur Selbstdarstellung spätmittelalterlicher Bürger
Andreas Beriger
Eine unglückliche Geschichte – die Autobiographie des Augustinerchorherrn Rutger Sycamber von Venray
Harald Tersch
Die schwermütige Betrachtung des Kometen – Politik und Emotion im Weißkunig
Andrea Kammeier-Nebel
Der Wandel des Totengedächtnisses in privaten Aufzeichnungen unter dem Einfluss der Reformation
Walther Ludwig
Die Sammlung der Epistolae ac Epigrammata des Ulmer Stadtarztes Wolfgang Reichart von 1534 als Dokument humanistischer Selbstdarstellung
Benigna von Krusenstjern
Buchhalter ihres Lebens. Über Selbstzeugnisse aus dem 17. Jahrhundert
Kaspar von Greyerz
Deutschschweizerische Selbstzeugnisse (1500-1800) als Quellen der Mentalitätsgeschichte. Bericht über ein Forschungsprojekt
Gunter Schweikhart
Vom Signaturbildnis zum autonomen Selbstporträt
Gabriele Hofner-Kulenkamp
Erweiterte Selbstbildnisse. Malerfamilien des 16. Jahrhunderts
Klaus Arnold
'Da ich het die gestalt' – Bildliche Selbstzeugnisse in Mittelalter und Renaissance
Wolfgang Schmid
Denkmäler auf Papier. Zu Dürers Kupferstichporträts der Jahre 1519-1526
Markus Späth
Auswahlbibliographie zum Stand der Selbstzeugnisseforschung