Zu diesem Buch
Das überkommene Geschichtsbild vom Mittelalter geht – besonders in der deutschen Forschung – von einer Vormachtstellung des Deutschen Reiches bis
zum Späten Mittelalter aus und weist den Ländern in West- und Osteuropa nur eine 'Randstellung' zu. Welches Defizit an Bewusstsein von den politischen
Kräfteverhältnissen im mittelalterlichen Europa diese unausgesprochene Konzentration auf das Kaiserreich und den deutschen König hinterlassen hat, erhellt die
vorliegende Studie, die unter extensiver Benutzung der zeitgenössischen Quellen und der neuen historischen Forschung für den Zeitraum von ca. 1060 bis ca. 1160
erstmals eine ausführliche Dokumentation der Beziehungen der europäischen Herrscher vorlegt. Aus diesen Untersuchungen ergab sich als zentraler Leitgedanke
für die Bewertung der Machtstrukturen im Europa des 11. und 12. Jahrhunderts die Existenz von 'Außenpolitik', welche die Rolle der englischen, französischen
und deutschen Herrscher im Hohen Mittelalter in einem neuen Licht erscheinen lassen. Mit dem Nachweis eines multizentral organisierten Bündnissystems, in dem den
englischen Herrschern eine konstitutive Bedeutung zukam, wird die Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung von 'außenpolitischem Handeln' und der Existenz
souveräner Staaten aufgelöst. Insbesondere die Analyse der Diplomatie König Heinrichs I. von England und seiner Konzeption eines hegemonialen angevinisch-
anglonormannischen Reiches führt zu der Schlussfolgerung, dass sich mit der Einführung des Begriffs 'Außenpolitik' in die Betrachtung der politischen
Verhältnisse schon ab dem Hohen Mittelalter neue Erkenntnisse für die mediävistische Forschung – und darüber hinaus für unser
Geschichtsbild vom Mittelalter – gewinnen lassen.
So ergibt sich, dass die Bedeutung des Kaisertums und der deutschen Könige im Hohen Mittelalter einer Revision unterzogen werden muss: Ihre politische Funktion wird
angesichts der durch König Heinrich I. von England begründeten ökonomischen und militärischen Überlegenheit der anglonormannischen
Könige stark relativiert. Das größere Gewicht im europäischen Kräftespiel, das den englischen Herrschern zugeschrieben werden muss, beruht auf
dem von ihnen geschaffenen Finanz- und Verwaltungswesen, dessen Relation zur politischen und ökonomischen Potenz des jeweiligen Herrschers erstmals für den
beschriebenen Zeitraum nachgewiesen wird. Verbunden hiermit ist die Rückständigkeit der finanz- und verwaltungstechnischen Strukturen im Römischen Reich,
welche die politische Potenz und den Handlungsspielraum der deutschen Herrscher beschnitt und so die Krise des deutschen Königtums und des römischen
Kaisertums im Spätmittelalter mit bewirkte.
Auf dieser sozioökonomischen Grundlage haben die englischen Könige zur Sicherung und Ausweitung ihrer Einflusssphären ein Geflecht außenpolitischer
Beziehungen errichtet, deren Bestimmungsfaktoren nachgewiesen und deren Mittel und Techniken analysiert werden. Welche Bedeutung in diesen Beziehungen den
Universalgewalten – insbesondere dem Papsttum – zukam, wird in der vorgelegten Studie erörtert. Hierbei rücken auch die Herrschaftsideologien der
west- und mitteleuropäischen Regenten ins Blickfeld, deren Grundelemente aufgeschlüsselt und in ihrer Bedeutung für die zeitgenössische politische
Entwicklung gewürdigt werden.
Im Resultat legt die Studie eine zeitgemäße Darstellung der 'Ereignisgeschichte' der wichtigsten Reiche in West- und Mitteleuropa unter Berücksichtigung der
Interdependenz von innen-, kirchen- und außenpolitischen Entwicklungen vor. Sie entwickelt ein neues Bild vom mittelalterlichen Europa und der Bedeutung der
verschiedenen Reiche für die wichtigen politischen, kulturellen und sozialen Entwicklungen im Hohen Mittelalter. Sie enthüllt dabei, welches Bild von den 'Deutschen'
die außen- und kirchenpolitischen Entscheidungen der römischen Kaiser in den Ländern Westeuropas hinterlassen haben: Das 'Negativ-Image' der Deutschen in
diesen geopolitischen Räumen hat Tradition.
Die Fülle des vorgelegten Materials und seine Aufarbeitung unter dem Gesichtspunkt der Neubewertung als außenpolitisches Handeln macht dieses Werk zu einem
unentbehrlichen Handbuch für alle direkt oder indirekt angesprochenen Fachgebiete.
Der Inhalt
1. Einleitung · 2. Die außenpolitischen Maßnahmen der anglonormannischen Herrscher im Rahmen des gesamteuropäischen
Beziehungsgeflechts [2.1 Grundlagen; 2.2 Konsolidierung; 2.3 Intensivierung und Expansion; 2.4 Stabilisierung und Defension] · 3. Strukturanalyse der
außenpolitischen Bündnissysteme in Europa im 11. und 12. Jahrhundert [3.1 Die Herrschaftsgrundlagen des englischen Königs in ihrer Bedeutung für
das außenpolitische Handeln der anglonormannischen Monarchen; 3.2 Herrschaftsideologie und politische Rahmenbedingungen für das außenpolitische
Handeln der anglonormannischen Könige; 3.3 Die außenpolitische Bedeutung der Universalgewalten im 11. und 12. Jahrhundert; 3.4 Bestimmungsfaktoren des
außenpolitischen Handelns der anglonormannischen Herrscher; 3.5 Mittel und Techniken des außenpolitischen Handelns der anglonormannishen Herrscher; 3.6 Das
außenpolitische Handeln der anglonormannischen Könige im Rahmen der zeitgenössischen Bündnissysteme] · 4. Schluß und
Ausblick · 5. Abkürzungen · 6. Quellen und Literatur · 7. Personenregister