Zu diesem Buch
Während des "Kalten Kriegs" wurde Europa in den Ländern östlich des "Eisernen Vorhangs" auf eine besondere Art und Weise imaginiert: Jenseits der
pragmatischen politischen Einigung im Westteil des Kontinents verliehen Intellektuelle und Publizisten Europa hier eine utopische Dimension. Sie skizzierten es als schillernden
Gegenentwurf zum realsozialistischen Alltag – als Vorbild von Demokratie, politischer Teilhabe, Marktwirtschaft und Prosperität.
Die vorliegende Studie betrachtet die politische Publizistik in der DDR, der Volksrepublik Polen und der CSSR von der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki im Jahr 1975
bis zum Fall des "Eisernen Vorhangs" 1989. In der vergleichenden Untersuchung gegenläufiger Europanarrative der Kommunistischen Parteien und ihrer Organe einerseits
sowie der Untergrundpublizistik oppositioneller oder unabhängiger Autoren andererseits zeichnet Christian Domnitz sowohl die Bedeutung und den Wandel der
verschiedenen Vorstellungen von Europa als auch deren Autoren in ihren Funktionen und die daraus erwachsene Deutungskonkurrenz nach: Staatsnahe Autoren erzählten
Europa als "friedliche Koexistenz von Ost und West", während Dissidenten und Untergrundpublizisten im Zeichen von Europa Grundrechtsgarantien forderten.
Der Autor untersucht hierzu Publikationen der repräsentativen Parteipropaganda, der dazu zählenden offiziellen Publizistik sowie der Gegenöffentlichkeit
– des Samizdat. Sein Zugang zu den Quellen ist dabei ein dreifacher: sowohl die Erzählungen Europas, als auch die Kommunikationsströme und die
biographischen Erfahrungshorizonte verweisen auf verschiedene Sphären und Teilbereiche staatssozialistischer Öffentlichkeiten.
Christian Domnitz' Studie revidiert die lange geläufige Forschungsauffassung, dass die Neuorientierung im Zeichen Europas in den Gesellschaften des Ostblocks erst
mit den Umbrüchen von 1989 begann. Indem der Autor Kommunikationsströme sowie Grenzen des Sagbaren rekonstruiert, arbeitet er einen Wandel von
Öffentlichkeitsstrukturen heraus: Schon vor der finalen Krise staatssozialistischer Herrschaft drangen von unabhängigen Intellektuellen geprägte Europanarrative
in die offizielle Sphäre vor und führten zu deren Ausdifferenzierung.
During the Cold War, countries East of the Iron Curtain imagined Europe in a special way. Beyond the pragmatic political agreement in the Western part of the continent,
intellectuals and journalists added a utopian element to Europe. The continent was thought to be the shimmering counterpart of the real socialist daily life. All in all, it was depicted
as a role model for democracy, political participation, market economy and prosperity.
The study deals with the political journalism in the GDR, People’s Republik Poland and Czechoslovakia prior to the Helsinki Final Act in 1975 until the fall of the Iron
Curtain in 1989 and compares reversed European narratives of Communist Parties and their organs to underground or independent authors. In doing so, Christian Domnitz
presents meanings and changing thoughts about Europe as well as the functions of writers and the resulting competing interpretations. Authors close to the state portrayed Europe
as a "peaceful co-existence of East and West, " whereas dissidents and underground journalists demanded Europe-based guaranteed fundamental rights.
Domnitz considers publications by the representative party propaganda, by the official journalism and the counter-public – the samizdat. He approaches the sources
in a threefold way since not only European narratives but also communication and biographic horizons of experience lead to different spheres and sub-areas of socialist publicities.
Christan Domnitz's study revises the leading research opinion that the re-orientation of the Western societies in the Eastern bloc began on a European basis with the
changes in 1989. In the process of tracing back communication and limits of articulation, the author reveals changing structures of the public. It was already before the final crisis
of the socialist leadership that those European narratives which were influenced by independent intellectuals advanced and even led to their differentiation.
Inhalt
Summary
1 Einleitung: Zwischen Untergrund und Parteidiktion. Europanarrative in der politischen Publizistik östlich des "Eisernen Vorhangs"
Idee und Fragestellung · Zugänge und Methode: Plurale Europaerzählungen, plurale Öffentlichkeiten · Vorstellungen und Erzählungen
Europas: Stand der Forschung · Quellen · Aufbau der Arbeit
2 Offizielle Publizistik in den Staatssozialismen: Die Redaktionen Polityka, Tvorba und horizont
Geschichte und Funktion in den Gesellschaften · Unterordnung unter Partei und Staat · Austausch und Weitung des Sagbaren: Beziehungen zur Wissenschaft
· Versteckte Aneignung: Beziehungen zum Samizdat · Nationales Selbstbild und grenzübergreifende Beziehungen · Zusammenfassung: Nah an
der Partei, doch nicht mit ihr eins
3 Dogmatisch-kommunistische Europanarrative in der Offizialkultur
Abgrenzung nach Westen: Bourgeoisie, Kapitalismus und Imperialismus als Feindbilder · Abgrenzung nach außen: Die Berufung auf Europa zwischen
internationalistischem Anspruch und nationalkommunistischer Machtausübung · Friedenspropaganda · "Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa" · Wirtschaftliche Ost-West-Kooperation in der KSZE · Zusammenfassung: Von der Verteufelung des Westens zur eigenen Europaerzählung der
Staatssozialismen
4 Europanarrative in der Untergrundpublizistik
Menschenrechte und Frieden im "Europa von Helsinki" · Ein Europa der Kultur · Die Debatte um eine zentraleuropäische Kultur · Pläne
für zentraleuropäische Föderationen · Wohlstand und Lebensqualität · Zusammenfassung: Unabhängige Europanarrative zwischen
Westorientierung und blockübergreifender Ausrichtung
5 Deutungskampf um Europa in der offiziellen Publizistik
Europäische Kultur · Das "Gemeinsame Europäische Haus" · Die polnische Debatte über eine zentraleuropäische Kultur ·
Prosperität und Wohlstand bei Übernahme marktwirtschaftlicher Prinzipien · Zusammenfassung: Die offizielle Aneignung unabhängiger
Europanarrative
6 Fazit: Hinwendung nach Europa
Nach "Helsinki": Deutungskampf um Europa · Hohe Signifikanz der Nation · Vordringen unabhängiger Europanarrative in die offizielle Publizistik ·
Wandel der Öffentlichkeitsstrukturen · Legitimitätsverlust der staatssozialistischen Herrschaft
7 Ausblick: Zentraleuropäische Europanarrative und die Erweiterung der Europäischen Union
Der Herbst 1989 – Umbruch und Kontinuität · Die zentraleuropäischen Nationen in der Europäischen Union
Anhang
Personenindex · Abkürzungen · Interviews · Archivbestände · Zitierte Quellen und Literatur