Zu diesem Buch
"Europäische Identität" als Herausforderung an Geschichtswissenschaft und Schule
Als vor einigen Jahren praktisch in allen Kontinenten, ganz besonders aber in Europa die Vorbereitungen auf die Zweihundertjahrfeier der französischen Revolution
einsetzten, konnte niemand ahnen, dass dieser Universalismus im weltweiten wie europäischen Sinn im Jahr 1989 selbst eine völlig neue Bedeutung erfahren sollte.
Beschränken wir uns auf das vorrangig betroffene Europa: In einem "physisch" und ideologisch geteilten Subkontinent entfalteten plötzlich kulturelle Kräfte eine
Wirkung, an deren Existenz viele nicht mehr hatten glauben wollen. So wie die französische Revolution 1789 ein Echo bis in die hintersten Winkel Europas erzeugte und zu
einer Art Kraftzentrum des politischen und kulturellen Europas wurde, veränderten die revolutionären Ereignisse des Jahres 1989 das politische, kulturelle, und
diesmal natürlich auch das wirtschaftliche Europa tiefgreifend. Dass es eine politisch-kulturelle Identität Europas gibt, die im Sinne einer Persistenz mentalitärer
Strukturen ungebrochen, wenn auch durch die Geschichte des 19. und 20. Jh. vielfach verändert ist, ist ein Faktum, das erst wieder ins Bewusstsein zu heben ist. Es
würde aber nicht ausreichen, jetzt wieder den Topos "Abendland" als Erklärungsschablone zu bemühen, da dieser kaum das Warum der Fortdauer dieser
politisch-kulturellen Identität der Europäer erklären könnte: Schließlich war diese Identität, nicht zuletzt seit und nach der französischen
Revolution, im Zuge des Nationalismus, kriegerischer Expansionspolitiken in- und außerhalb Europas, zweier Weltkriege usf. extremen und zerstörerischen
Belastungen ausgesetzt. In gewissem Sinn hat die abendländische Vision versagt, sie erzeugte letztlich keine politisch-schöpferische Kraft, sondern sie gab sich
allmählich und unter Mithilfe der Kulturpessimisten dem Zerfall preis. Gefragt sind deshalb jetzt auch nicht so sehr Visionen von einer europäischen gemeinsamen
Geschichte, die verdecken könnten, dass an der "Europäischen Identität" erst noch gearbeitet werden muss. Gefragt sind vielmehr die nüchternen und
zunächst einmal wissenschaftlich geprägten Mittel des historischen Handwerks des "Sich-Erinnerns": Die Europäer sind in einer Lage, in der sie ihre Zukunft neu
gestalten können und müssen. Ohne eine gemeinsame, eine europäische Identität wird dies dauerhaft nicht möglich sein. Eine europäische
Identität ohne historisch reflektierte Grundlegung erscheint nicht vorstellbar. Darin liegt eine Herausforderung an die Geschichtswissenschaft, die Herausgeber und Autoren
dieses Handbuchs zur europäischen Schulgeschichte aufgreifen, aber auch eine Herausforderung an die Schule, die Schüler, die Lehrer, ohne die die Arbeit an der
europäischen Identität nicht sinnvoll zu bewältigen ist. Das vorliegende Handbuch wendet sich daher ebenso an Studenten und Lehrende an den
Universitäten wie an die Geschichtslehrer und ihre Schüler.
Die Grundlagen der modernen Gesellschaft
wurden in der Zeit zwischen der Mitte des 18. Jh. und in etwa dem ersten Viertel des 19. Jh. neu geschaffen – nicht abrupt, aber in einem gesteigerten Tempo der
Transformation, das den Zeitgenossen selbst bewusst war. Kern der Transformationsprozesse ist eine Revolution des Wissens. Die Schule stand in vielfacher Hinsicht inmitten
dieses Transformationsprozesses, entscheidende Weichenstellungen für die Geschichte Europas erfolgten über die und mit Hilfe der Schule. Inwieweit die Schule am
Kernvorgang der Revolution des Wissens Teil hatte, ist eine zu beantwortende Frage. Erläuternde Stichworte sind z. B.:
– Wenn etwa allmählich, aber erfolgreich die für das Ancien Régime tragende Beziehung "Korporation/soziale Gruppe – Staat" durch die die
moderne Gesellschaft prägende Beziehung "Individuum – Staat" ersetzt wurde, dann trägt die allmähliche Verlagerung von Bildung und Erziehung von
den sozialen Gruppen, Korporationen, Familien usw. auf die Schulen daran einen entscheidenden Anteil.
– Im Bewusstsein der Masse der Bevölkerung hatte es bis zum Ende des Ancien Régime kaum einen Rückhalt für das Militärische
gegeben. Die Schaffung und Vermittlung einer durchdachten und durchorganisierten, auf dem Wissensstand der Zeit basierenden militärischen Ausbildung in speziellen
Militärschulen in Verbindung mit einer sozioprofessionellen Neubewertung zunächst des Offiziers- und später des Soldatenstatus veränderte jedoch dieses
Bewusstsein, sei es in Spanien, sei es in Frankreich, sei es in verschiedenen deutschen Ländern.
– Die Wertvorstellungen des Bürgers, des Utilitarismus, des Patriotismus, des Nationalismus etc. wurden außerhalb der Schule entwickelt, die Schulen
wurden aber für diese Werte instrumentalisiert. Zugleich wurden damit die für das Ancien Régime so entscheidenden regionalen oder lokalen Bezugshorizonte
zugunsten nationaler Bezugshorizonte aufgelöst.
– Die Volksschulen waren ein Hort der religiös-moralischen Bildung und Erziehung. Dies blieb bis weit ins 19. Jh. hinein so und bremste die Revolutionierung
des in der Schule vermittelten Wissens, aber auch die "Vereinnahmung der Gesellschaft durch den Staat" und die flächendeckende Verwirklichung politischer Ideen, die
nicht alle immer nur auf das Wohl der Menschen zielten.
– Für die Aufklärer waren die Schulen ein wichtiges und gegebenes "Experimentierfeld" bei der Umsetzung ihrer "Reißbrettentwürfe" zu Staat
und Gesellschaft. Wenn ihre Reformbestrebungen und Experimente leicht unter das Stigma des Scheiterns gestellt wurden und werden, so verkennt dies, dass sie vielfach
sozialproduktive Konflikte auslösten, deren Ergebnisse erst im 19. Jh. an der gelungenen Veränderung von Staat und Gesellschaft abzulesen sind.
– Der Wandel von der semi-oralen zur Schriftkultur als allgemeinverbindlichem "Seinsmodus" verläuft entscheidend über die Veränderung der
Schule in der Aufklärungszeit.
Das sind nur einige ganz wenige Stichworte, die die allgemeine historische Bedeutung der Schulgeschichte in der fraglichen Epoche knapp illustrieren. Die Ausprägung der
angesprochenen sowie der hier nicht angesprochenen Aspekte in den einzelnen europäischen Ländern war signifikant unterschiedlich. Daraus ergeben sich wichtige
Hinweise für ihre Deutung im europäischen Horizont. Große Unterschiede ergeben sich in bezug auf Schuldichte, soziale Verankerung der Schule,
Verhältnis von Schule und Alphabetisierungsquote, Sozialstatus der Lehrer, Ausprägung des Eliteschulwesens, Intensität populärer Erziehungskonzepte,
Engagement der Kirche, der Orden, des Staates usw. Diese und viele andere Aspekte werden im europäischen Vergleich zusammengeführt.
Die Gestaltung des Buches
Unter äußeren Gesichtspunkten folgt das Buch den Prinzipien geographische Vollständigkeit und Verbindlichkeit eines einzigen wissenschaftlichen
Konzepts für alle Autoren und Länderkapitel.
Geographische Vollständigkeit
Die Verwirklichung geographischer Vollständigkeit reibt sich natürlich an den tatsächlichen Bedingungen historischer Forschung in den osteuropäischen,
aber auch manchen westeuropäischen Staaten. In diesem Buch sind dennoch alle europäischen Länder vertreten, bis auf den sog. europäischen Teil der
Sowjetunion. Bei der Festlegung der einzelnen Kapitel wurde aus praktischen Gründen – wie Arbeitsmöglichkeiten und Sprachkompetenzen – mit
verschiedenen Einschränkungen von der aktuellen Staatenwelt Europas ausgegangen. Für das historische Gebiet der Habsburgermonarchie heißt das z. B.,
dass eigene Länder-Kapitel für Ungarn etc. vorliegen. Besonderer Wert wurde zudem, wo immer möglich, auf regionale Differenzierung gelegt wie z. B. im Fall
von England-Schottland-Irland oder im Fall des heterogenen 'Italiens' usf., da die Regionen bis heute ausgeprägte eigene Identitäten bewahrt haben. Auch
durchschneiden Staatsgrenzen kulturell zusammenhängende Regionen und können unter diesem Aspekt kaum Maßstab sein.
Das wissenschaftliche Konzept
Es konnte bei dieser Publikation nicht darum gehen, einfach verschiedene Landesgeschichten nebeneinander zu stellen und diese dann mit dem Label "Europa" zu versehen.
Vergleichbarkeit kann nur auf der Grundlage eines für alle Autoren verbindlich vereinbarten Konzepts erzielt werden. So wurde ein sozialgeschichtliches Konzept festgelegt,
das sich in vier Hauptabschnitten mit den Rahmenbedingungen der Schulerziehung, dem Schulwesen unter systematischen Gesichtspunkten, der Alltagspraxis der Schulen und
den Erziehungskonzepten befasst. Der erste Abschnitt gilt jeweils der Gesellschaft der Epoche sowie demographischen, wirtschaftlichen, politischen, religiösen und anderen
kulturellen Aspekten. Der zweite Abschnitt dient einer Beschreibung der verschiedenen Ebenen des Schulwesens in seinem Facettenreichtum. Stichworte aus dem dritten
Abschnitt "Alltagspraxis der Schule" sind: Kosten und Finanzierung, Kontinuität und Diskontinuität des Schulbesuchs, Lehrer, Schüler, Eltern, Lerninhalte,
Ergebnisse der Schulerziehung. Statistisches Material ist sozial differenziert. Abschnitt vier wendet sich auf der Grundlage einer sozialen Differenzierung den
Erziehungskonzepten von Bauern, Arbeitern, Bürgern, Händlern, Adligen, des Klerus, der Publizisten, der Philosophen sowie "des Staates" zu. Es geht dabei nicht um
starre Grenzziehungen zwischen sozialen Gruppen und Schichten, sondern um den Versuch, je nach Forschungsstand, die große Breite der vorhandenen
Erziehungskonzepte zu verdeutlichen. Die jeweiligen Zusammenfassungen stehen unter der Leitperspektive der Funktion der Schulerziehung in der fraglichen Epoche.
Auch das ist neu:
Die konzeptionelle Kohärenz des Buches ist beispielhaft für die Anforderungen, denen sich die europäische Geschichtsschreibung in Zukunft stellen muss. In
seiner Anlage ist das Buch bisher ohne Vorbild. Unter dem Gesichtspunkt des Themas "Schule" werden für verschiedene europäische Länder erstmals –
nicht nur erstmals in deutscher Sprache, sondern erstmals für die Länder selbst – Synthesen auf der Grundlage des vorgestellten sozialgeschichtlichen
Konzepts veröffentlicht. Das gilt z. B. für den ganzen südlichen Teil Europas von Portugal bis Bulgarien und Griechenland. Da für die meisten Länder
zudem keine sozialgeschichtlich orientierten Synthesen zur Geschichte der Schule in der Epoche zwischen ca. 1750 und 1825 in deutscher Sprache vorliegen, wird dem
deutschsprachigen Leser hier erstmals die Möglichkeit gegeben, sich schnell und umfassend über ein zentrales Thema der europäischen Geschichte in einer
Schlüsselepoche zu informieren.
Die Beiträge
Wolfgang Schmale, Nan L. Dodde
1789-1989: "Europäische Identität" als Herausforderung an Geschichtswissenschaft und Schule
Wolfgang Schmale
Allgemeine Einleitung: Revolution des Wissens? Versuch eines Problemaufrisses über Europa und seine Schulen im Zeitalter der Aufklärung
Erster Teil: Vorrang der gesellschaftlichen Wirkkräfte
Knut Tveit
Schulische Erziehung in Nordeuropa 1750-1825: Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden
Lawrence A. Williams
Abstinenz des Staates. Das britische Schulwesen 1750-1825 (England, Schottland, Irland)
Übersetzung: Regina Pörtner
Nan L. Dodde, Jan H.G. Lenders
Reform, Reorganisation und Stagnation. Der Schulunterricht in den Niederlanden und Belgien 1750-1825
Wolfgang Schmale
Soziogeographische Divergenz und nationale Nivellierung. Die Schulerziehung in Frankreich in der schöpferischen Krise
Zweiter Teil: Vorrang der staatlichen Wirkkräfte
Gerald Grimm
Expansion, Uniformisierung, Disziplinierung. Zur Sozialgeschichte der Schulerziehung in Österreich im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus
Sándor Komlósi
Schule und Erziehung in Ungarn (1750-1825): Zwischen Systemerhalt und Modernisierung
Dagmar Capková
Der Neubeginn. Die Schule in den tschechischen Gebieten seit 1774. Österreichische Reformzeit und Nationale Wiedergeburt der Tschechen
Aurea Adao
Eine Bildungsrevolution versandet. Das Schulwesen in Portugal von der Reform des Marquis von Pombal (1759) bis zur Liberalen Revolution (1820)
Marianna Krupa
Schulerziehung in Polen 1750-1825
Dritter Teil: Vorrang der kirchlichen Wirkkräfte
Joan Mircea Bogdan
Eintritt in die Modernität. Die Rumänen und ihr Schulwesen (Banat, Siebenbürgen, Bukowina, Moldau und Walachei)
Fikret Adanir
Die Schulbildung in Griechenland (1750-1830) und in Bulgarien (1750-1878). Im Spannungsfeld von Bewahrung der ethnisch-konfessionellen Identität, Entstehung der
bürgerlichen Gesellschaft und Herausbildung des Nationalbewusstseins
Vierter Teil: Gleichberechtigtes Wirken der gesellschaftlichen, staatlichen und kirchlichen Wirkkräfte
Pere Solà
Schule, Erziehung und Gesellschaft in Spanien (1759-1833)
Übersetzung: Miguel Ribas
Giovanni Genovesi
Geschichte der Schule in Italien. Von der Zeit vor der staatlichen Einheit bis zu den Ursprüngen des Schulmodells für das vereinigte Italien
Pietro Scandola
Von der Standesschule zur Staatsschule. Die Entwicklung des Schulwesens in der Schweizerischen Eidgenossenschaft 1750-1830 am Beispiel der Kantone Bern und
Zürich
Wolfgang Schmale
Die Schule in Deutschland im 18. und frühen 19 Jahrhundert. Konjunkturen, Horizonte, Mentalitäten, Probleme, Ergebnisse. Anhang: Daten zum bayerischen
Elementarschulwesen 16.-19. Jh. und zum militärischen Ausbildungswesen in Deutschland (1763-1825)