Zu diesem Buch
Hugo von Hofmannsthal hat Arthur Schnitzlers ersten Roman "Der Weg ins Freie" (1908) in der Eisenbahn liegen lassen. "Halb zufällig halb absichtlich", gestand er dem
Freund. Bis heute sind Literaturwissenschaftler diesem ‚Beispiel’ Hofmannsthals gefolgt und haben den beiden Romanen Arthur Schnitzlers kaum Beachtung
geschenkt. "Therese" (1928), der zweite Roman des berühmten Wiener Poeten, der übrigens Hofmannsthals Zustimmung und die Bewunderung Thomas Manns fand,
blieb noch unbekannter als Schnitzlers erste Gestaltung der großen epischen Form des bürgerlichen Zeitalters. Resultat: Die feuilletonistische Pauschalisierung Marcel
Reich-Ranickis, "Der große Arthur Schnitzler war ein Dramatiker und Novellist; ein Romancier war er nicht", entspricht einer Forschungslage, die neben einer Vielzahl von
Einzel- und Motivanalysen die Novellen, Erzählungen, Komödien, späte Prosa, späte Dramen und Einakter untersucht hat – die Romane jedoch
nicht.
In dieser 'Forschungslücke' steht die Arbeit von Wolfram Kiwit. Es ist eine Studie, die es unternimmt, Schnitzlers Romanwerk erstmals zum Gegenstand
einlässlicher Untersuchungen zu machen. Aus einer strukturanalytisch fundierten Interpretation der Texte, der Diskussion des jeweiligen Fin-de-siècle-Kontextes und
der Einbeziehung von Vorstufen bzw. bislang unveröffentlichten Arbeits- und Tagebuchnotizen Schnitzlers zu seinen Romanen, ergeben sich geschlossene
Untersuchungen. Der Autor bietet eine umfassende und kritische Würdigung der ästhetischen Struktur und Bedeutung von "Der Weg ins Freie" und "Therese",
betrachtet Schnitzlers Erzählen zwischen der 'Traditionalität' des 19. und der 'Modernität' des 20. Jahrhunderts und kann zudem durch text-genetische Analysen
einen Einblick in die 'Physiologie des Romanschaffens' geben.
Für die Forschung wird darüber hinaus Kiwits Behandlung der im Nachlass des Dichters überlieferten Romanfragmente und -entwürfe von ganz
besonderem Interesse sein. Vor allem die Untersuchung des nur zum Teil edierten "Theaterromans", eines Romanprojekts, das Schnitzler bis zu seinem Lebensende begleitet
hat, wirft ein neues Licht auf das Oeuvre des Wiener Poeten. Nach der bisherigen Forschungslage mag es erstaunen, doch gehört zu Schnitzlers Werk für den
gesamten Zeitraum seiner literarischen Produktion auch sein ästhetisches Bemühen um die Gestaltung der großen epischen Form. Bereits 1877 schreibt er als
Fünfzehnjähriger an einem etwas frühreifen Vorhaben mit dem Titel "Akademische Herzen", ein Fragment, das gleichwohl für die Kontinuität seines
Erzählens aufschlussreich ist. Bevor Schnitzler ab der Jahrhundertwende beginnt, den "Weg ins Freie" zu konzipieren, findet sich 1894 im Tagebuch: "sehne mich nach
einer größeren Arbeit", die mit ersten Notizen zum "Theaterroman" ihre mögliche Gestalt annimmt. Eine Phase der intensiven Auseinandersetzung mit diesem
Fragment erfolgt von neuem nach der Publikation des großen Wiener Romans’ "Der Weg ins Freie", dann erscheint "Therese", die 'Chronik eines Frauenlebens', und
bis zu seinem Tode 1931 arbeitet Schnitzler wiederum an dem "Theaterroman", der als Romanfragment auch durch eine intertextuelle Korrelation zu seiner ebenfalls
unvollendeten Autobiographie von signifikanter Bedeutung für das künstlerische Schaffen des Dichters ist.
Analyse-Splitter:
– Arthur Schnitzler ist ein 'Romancier des Übergangs': Sein schmales Romanwerk weist ins 19. Jahrhundert zurück, indem es zugleich der
beginnenden Moderne des 20. Jahrhunderts angehört.
– Arthur Schnitzler ist ein 'Romancier der Entwicklung': Die publizierten Romane werden nicht mit der formalästhetischen Intention zur epischen Breite
begonnen. Im Gestaltungsprozess entstehen "Der Weg ins Freie" und "Therese" durch die 'Aufquellung einer Zelle’.
– Arthur Schnitzler ist ein 'Romancier der Reflexivität': Die Strukturiertheit seiner erzählerischen Weltmodelle lassen ein Höchstmaß an
Konzeption und ästhetischem Gestaltungswillen (Zeit-, Raumstruktur, Figurenkonstellation, Erzählperspektive) erkennen.
– Arthur Schnitzler ist ein 'Romancier mit sozialem Blick': Die Kritik an der zeitgenössischen Gesellschaft ist in den Romanen im Text konkretisiert wie
kaum in einem Drama oder einer Novelle des Wiener Autors. Die Entwicklung der 'kleinen Form' zum Roman ist die Ausweitung des Erzählens in den gesellschaftlichen
Raum.
– Arthur Schnitzler ist ein 'Romancier der Moral': Einer vom Untergang gezeichneten Welt stellt der Fin-de-siècle-Poet das Ideal humanitärer
Verantwortung entgegen.