Zu diesem Buch
Um jene Jahreswende 1989/90, als sich in der DDR die SED und mit ihr die offiziell zugelassenen Blockparteien aufzulösen begannen und neue Bewegungen um
Unterstützung warben, machten die Autoren die Beobachtung, dass die Identifikation mit dieser oder jener politischen Kraft nicht über Wahlprogramme verlief –
jeder wollte die freie Marktwirtschaft, sozial und ökologisch –, sondern über Erzählungen. Erzähle mir deine Geschichte, und ich sage dir, ob
ich mit dir gehe, so etwa lief die Suche nach der richtigen Partei im Wahljahr 1990. Dabei war klar, dass weder Bärbel Bohley noch Helmut Kohl, wenn sie etwa von der
Verfolgung durch die Stasi oder dem Wirtschaftswunder erzählten, private Angelegenheiten vortrugen. In jenen Monaten der großen Unsicherheit um die Jahreswende
1989/90 konnten die DDR-Bürger gleichsam in verschiedenen Büchern blättern, die jeweils eine bestimmte Sammlung von Erzählungen bereithielten.
Intellektuelle sind in der Regel professionelle Geschichtenerzähler, und diese zumindest gab es auch in der DDR. Wie seinerzeit das Publikum sie las oder ihnen lauschte,
haben auch die Autoren noch einmal den Geschichtenerzählern der DDR zugehört, um herauszufinden, wie sie ihre Geschichten miteinander verbinden und wovon zu
schweigen sie vorziehen.
Geschichten sind doppelbödig. In der Form einer Geschichte sprechen Ereignisse nicht mehr allein für sich, sondern sie sind Exempel für eine bestimmte
Vorstellung von ihrem Sinn. Wer nur die Fakten wahrnimmt, hat die Geschichte noch nicht verstanden. Sie kodieren eine Botschaft, die sich in der Regel erst zum Ende der
Erzählung hin erschließt und etwas über den Sinn des Geschehenen mitteilt. Indem Menschen Geschichten erzählen, führen sie einen
hintergründigen Diskurs über den Sinn von Handeln und Leiden. Er beginnt nicht erst mit der expliziten Erörterung von Werten oder Normen, er setzt bereits mit
dem Erzählen von Geschichten ein. Wer also etwas über die überindividuellen Identitäten der DDRler erfahren möchte, verlasse sich nicht auf die
gängigen Ideologien und Werteskalen. Der Ursprung der Diskurse liegt in ihren Geschichten.
Der Herbst 1989 tangierte die bisher feststehenden Fixpunkte der DDR-Intellektuellen, die Gegenstände der Identifikation wie die der Negation – Staat, Partei, Macht
verfielen von Tag zu Tag. Anfängliche Bündnisse zwischen SED-Reformern und Bürgerbewegungen, die in politisch-programmatischer Hinsicht durchaus
keine unvereinbaren Vorstellungen hatten, funktionierten nur zur Demontage des Honecker-Regimes. Aber die programmatischen Ziele bildeten nur das Medium, in dem beide
Gruppen versuchten, ihren Diskurs zum gesellschaftlich maßgeblichen zu machen.
Dieses Scheitern machen die Autoren an drei Prozessen fest, deren Ursachen sie in den von ihnen untersuchten Diskursen selbst sehen: 1. Die SED-Reformergeneration hatte
1989 zwar den "Dialog" mit der Bürgerbewegung gesucht, ohne aber jemals die Option einer echten Machtteilung zu akzeptieren. 2. In den Bürgerbewegungen kam es
unter dem Druck einer gesamtdeutsch votierenden Bevölkerungsmehrheit zunehmend zu einer Differenzierung des Selbstverständnisses. Ein relativ großer Teil
verstand sich nicht mehr als Initiator und Mittler eines Diskurses, sondern als Bewerber um einen Teil der Macht und in diesem Sinne als Partei. 3. Schließlich haben auch
die westdeutschen Diskurse eine Rolle gespielt. Die DDR-Bevölkerung wurde mit dem Mythos eines Wirtschaftswunders zur Unterstützung der "Allianz für
Deutschland" gedrängt. Nicht eine Erzählung aus der Geschichte der DDR oder vom Prager Frühling oder der sowjetischen Perestroika machte bei den
Volkskammerwahlen das Rennen, sondern eine aus Westdeutschland.
Weder die Währungsunion noch die deutsche Vereinigung am 3. Oktober markieren daher den Beginn eines neuen gesamtdeutschen Diskurses, sondern allenfalls den
Start in einen Taumel von Selbsttäuschungen und Schuldzuweisungen, auch westdeutsche Identitäten werden fraglich. Es kommt zu Rundumschlägen und
bösen Schuldzuweisungen, jeder reklamiert die Gültigkeit des eigenen Diskurses – ohne Gültigkeitsgrenzen diskursiver Identitäten zu akzeptieren.
Handlungsrelevant aber können die alten Diskurse kaum noch sein, denn es gibt eine andere deutsche Realität und sich rasch zuspitzende Konflikte in den
Rahmenkonstellationen: Ende des Wachstums, die heraufziehende ökologische Katastrophe, der Verfall von Lebensqualität, Konflikte in Ost- und Südosteuropa,
Dritte Welt, Weltwirtschaft. Jenseits der politischen Szenerie gehen die ostdeutschen Bürger ihren privaten Angelegenheiten nach. Offen bleibt, ob es den etablierten
Parteien gelingen wird, an die Erfahrungswelten der Ostdeutschen auf eine Weise anzuknüpfen, die sie nicht entlang alter Brüche gegeneinander ausspielt, sondern
zu den akuten Problemen der 90er Jahre in Bezug bringt.
Dieses Buch enthüllt nichts, was nicht schon öffentlich gesagt worden ist. Die Autoren selbst haben keine Interviews geführt, sie haben Geschichten, wie sie in
Büchern nachzulesen sind, analysiert. Und hierin liegt ihre Leistung: Mit der Kategorisierung in Diskursfelder wird ein Stück intellektuellen Lebens der DDR
verständlich, sind Grundlagen der politischen Ereignisse in Deutschland seit 1989 reflektierbar. Damit greift das Buch couragiert in die aktuelle politische und intellektuelle
Debatte ein, um Ressentiments westlicher wie östlicher Provenienz aufzuklären.
Um den zu Worte kommenden Personen etwas von ihrer Anonymität zu nehmen, sind in Marginalien knappe Informationen über ihre jeweiligen Biographien
angefügt.
Der Inhalt
1 Diskurse im Umfeld der Staatspartei (Klaus Gysi, Wolfgang Leonhard, Hanna Wolf, Rudolf Herrnstadt, Stefan Hermlin, Markus Wolf, Robert Havemann, Johannes R.
Becher, Sabina Hager, Bertholt Brecht, Friedrich Wolf, Gerhard Scheumann, Elli Schmidt, Anna Seghers, Walter Janka, Heiner Müller, Kurt Barthel (KuBa), Hanns Eisler,
Helene Weigel, Volker Braun, Wolfgang Harich, Peter Ruben) [1.1 Der Diskurs der Altkommunisten (Hilde Eisler, Jürgen Kuczynski, Stefan Heym, Anton Ackerman); 1.2 Der
Diskurs der Aufbaugeneration (Hermann Kant, Christa Wolf, Heinz Warzecha, Horst Klinkmann, Hans Bentzien, Rainer Kirsch); 1.3 Der "konspirative Avantgardismus" der dritten
SED-Reformergeneration (Hans-Peter Krüger, Wolf Biermann, Gregor Gysi, Wolfgang Engler, Andreas Sinakowski, André Brie, Lothar Kühne, Hans Wagner,
Uwe Jens Heuer, Rosi Will, Michael Brie)] · 2 Diskurse im bürgerlichen Feld [2.1 "Überwintern" konservativ-bürgerlicher Identität (Konrad
Weiß, Moritz Mitzenheim); 2.2 "Kirche im Sozialismus" – der Diskurs der 60er und 70er Jahre (Friedrich Schorlemmer, Manfred Stolpe, Gottfried Forck, Edelbert
Richter, Wolfgang Ullmann, Günter Krusche); 2.3 Der alternative Diskurs der "Basisgruppen" (Christoph Dieckmann, Wolfgang Rüddenklau, Freya Klier, Bärbel
Bohley, Richard Schröder, Martin Gutzeit, Markus Meckel, Ibrahim Böhme)] · 3 Wende, Revolution, Ausblick · Methodischer Exkurs:
Politische Diskurse und Narration · Anmerkungen · Literatur