Zu diesem Buch
Seit 1989/91 ist die Welt nicht mehr so übersichtlich und einfach deutbar – sie wurde um vieles reicher, verwirrender, komplexer, unüberschaubarer und
schwieriger erklärbar. Seither besteht für die Historiographie die Gefahr, in völliger Sprachlosigkeit unterzugehen, weshalb zu überlegen ist, was sie den
Menschen heute noch zu sagen hat.
Michael Gehler widmet sich in diesem Band daher Fragestellungen einer Zeitgeschichte und Zeitgeschichtsschreibung im wechselseitigen Verhältnis von Region,
Nationalstaat, internationalen Beziehungen, europäischer Dimension und Globalisierung, wobei Möglichkeiten und Grenzen einer Historiographie angesprochen
werden, die mehrere räumliche Ebenen einzubeziehen versucht. Anhand dieses Konzepts eines dynamischen Mehrebenesystems analysiert er das Wechselspiel
verschiedener Geschichtsräume an konkreten Beispielen und gewinnt so neue Antworten auf historiographische Fragestellungen: zur Begriffsbestimmung von
Zeitgeschichte und der nationalen oder internationalen Orientierung der Zeitgeschichtsschreibung. Dabei legt er einen Schwerpunkt auf österreichische Aufgabenstellungen.
In der Summe machen Michael Gehlers Studien die Mängel aktueller Zeitgeschichtsforschung deutlich: ihre in der Regel nationale Ausrichtung, die an einer Distanz
zum Forschungsgegenstand sowie an einer kritischer Selbstreflexion hindert. Der Komplexität zeitgeschichtlicher Prozesse wird sie nicht gerecht. Dagegen schafft ihre
Betrachtung als dynamische Mehrebenensysteme ein Bewusstsein für globale Prozesse und eröffnet neue Fragestellungen und deren Relevanz.
Der Band, der ein Plädoyer für eine interdependente Zeitgeschichtsschreibung darstellt, die regionale, nationale, internationale, europäische und globale Ebenen
einbezieht, wendet sich v. a. an Forschende und Lehrende wie auch fortgeschrittene Studierende.
Der Inhalt
1. Vorbemerkungen zu Ambivalenz und Besonderheit der Zeitgeschichte · 2. Zeitgeschichte und Regionalgeschichte [2.1 Entwicklungslabor und
Experimentierfeld zur Verfeinerung der Kategorien von Max Weber; 2.2 Der Vergleich zur Verdeutlichung des Singulären. Periodisierungsfragen und Regionalgeschichte als
Testfall für das Übergeordnete; 2.3 Definitions- und Differenzierungsgebote für Begriffe – Indienstnahme für das "Europa der Regionen" oder
"Europäische Regionen" als Alternative?] · 3. Der "kurze Schatten" der österreichischen Zeithistoriographie [3.1 Vom Sinn, Nutzen und von vertanen
Chancen einer modernen Nationalgeschichte und zur Erweiterung der Kategorien Max Webers; 3.2 Drei österreichische Zeitgeschichten; 3.3 Profile und Aufgaben der
österreichischen Zeitgeschichte] · 4. Grundlagen und Aufgaben internationaler und europäischer Zeitgeschichtsschreibung [4.1 Kontinuität und
Wandel in den internationalen Beziehungen seit 1945 und das Vorurteil von der "Diplomatiegeschichte"; 4.2 Ohne ERP keine EWG: Ein Plädoyer für die Erweiterung
der kerneuropäischen Perspektive; 4.3 Von der "Sünde" zur "Tugend": Für Flexibilität in der Integrationsgeschichtsschreibung der "Klein-", "Groß-"
und "Gesamteuropäer"] · 5. Globalisierung und Zeitgeschichtsschreibung [5.1 Was ist eigentlich Globalisierung und wie ist sie zu kategorisieren?; 5.2 Zur
fraglichen Obsoleszenz des Nationalstaates im Zeichen der Globalisierung; 5.3 Die Massenmedialisierung und die Beschleunigung der Zeit als Herausforderungen für die
(Zeit-)Geschichtsschreibung; 5.4 Neue Quellen, Einseitigkeiten und fehlende "trouble makers"] · 6. Beispiele für Zeitgeschichte im Mehrebenensystem [6.1
European Recovery Program: Massenkultureller Imperialismus im Zeichen von "stars and stripes" 1948-1952/53; 6.2 Christdemokratische Parteien im 20. Jahrhundert; 6.3
"Euroregionen" im Zeichen von Binnenmarkt und Globalisierung am Beispiel von "Tirol-Südtirol-Trentino"; 6.4 Firmengeschichten und Unternehmenskooperationen im
Spiegel von globalem Wandel, Managerbiographien, Börsengurus und new economy; 6.5 Exterritorialisierter und denationalisierter Rechtsextremismus und Populismus:
Vergleichende internationale und globale Perspektiven; 6.6 Globalisierter Protest gegen Großmachtgelüste, transnationale Konzerne und das Multilaterale Abkommen
über Investitionen (MAI)] · 7. Schlussfolgerungen [7.1 Selbstkritik, Streitkultur und Unabhängigkeit als Voraussetzungen für eine innovative
Zeitgeschichtsschreibung; 7.2 Globalisierung als Chance für (Zeit-)Geschichtsschreibung im dynamischen Mehrebenensystem; 7.3 Verschärfte Sachzwänge:
Die universitäre Zeitgeschichte in der Krise; 7.4 Umgehung postmoderner Provokationen und moderne Historiographie schließen einander nicht aus; 7.5 Als
wesentlich erachtbare Fragen; 7.6 Schlussgedanke] · 8. Literaturauswahl · 9. Personenregister